Samstag, 31. Dezember 2011

Silvester-Lektüre


"An diesem letzten Nachmittag des Jahres war es schon ungewöhnlich früh stockdunkel geworden..."

Sonntag, 18. Dezember 2011

4. Advent

Jetzt hatten sie in Katthult viel zu tun, denn dort wurde Weihnachten gründlich vorbereitet. Zuerst die große Weihnachtswäsche. Lina und Krösa-Maja knieten auf dem eiskalten Steg am Katthultbach und spülten Wäsche. Lina weinte und hauchte auf ihre Finger, weil sie vor Frost schmerzten. Das große Weihnachtsschwein wurde geschlachtet, und nun, sagte Lina, hatte man selbst kaum noch Platz in der Küche, zwischen all den Fleischwürsten, den Klößen, den Bratwürsten und Leberwürsten, die sich neben Schinken und Sülze und gepökelten Schweinsrippen und ich weiß nicht was noch allem drängten. Dünnbier gehörte auch dazu, wenn Weihnachten war. Das hatte Michels Mama in dem großen Holzbottich im Brauhaus gebraut. Gebacken wurde, daß einem schwindlig werden konnte: Sirupbrot, feines Roggenbrot und Safranbrot und Weizenbrot und Pfefferkuchen und besonders leckere kleine Brezeln und Sahnebaisers, bunte Kekse und Spritzgebäck, ja, aufzählen kann man nicht alles. Kerzen mußte man selbstverständlich auch haben. Michels Mama und Lina brachten fast eine ganze Nacht damit zu, Kerzen zu ziehen, große Kerzen und kleine Kerzen und Baumkerzen, denn nun sollte hier wirklich Weihnachten werden. Alfred und Michel spannten Lukas vor den Holzschlitten und fuhren in den Wald, um einen Weihnachtsbaum zu schlagen, und Michels Papa ging in die Scheune und kramte einige Hafergarben hervor, die er für die Spatzen aufbewahrt hatte. „ Es ist natürlich eine wahnsinnige Verschwendung“, sagte er, „aber wenn Weihnachten ist, sollen es die Spatzen auch einmal gut haben.“ (Astrid Lindgren – Michel muss mehr Männchen machen)


(Bildquelle: mymodernmet.com)

Sonntag, 11. Dezember 2011

3. Advent


Weihnachten ist nur noch einen Liter Milch entfernt.

Freitag, 9. Dezember 2011

Bilderbuchverfilmung



"Die wahren Leser, jene, die man früher mal Romanenköpfe nannte, sie hassen Literaturverfilmungen. Weil Bücher, weil Romanfiguren in der geisterhaften weiten Welt der Leserfantasien nun mal größer, schöner oder schrecklicher wirken als in der konkreten, verkürzten Allzumenschlichkeit von Schauspielern. Wahre Leser also hassen und verachten Literaturfilme - und rennen trotzdem immer wieder hinein." (Peter von Becker)

Man würde denken, dass man bei einer Bilderbuchverfilmung die ursprüngliche Leser- oder Betrachterschaft nicht so leicht enttäuschen kann. Die Geschichten sind kurz, weshalb starke Kürzungen kaum zum Kritikpunkt werden können. Die Bilder sind bereits vorhanden, weshalb das Argument "den/das hab ich mir immer ganz anders vorgestellt" (bei Übernahme des ursprünglichen Zeichenstils) auch wegfallen dürfte.
Und trotzdem konnte mich die Verfilmung von "Ente, Tod und Tulpe" von Wolf Erlbruch nicht vollständig überzeugen. Denn bereits der Schritt unbewegte in bewegte Bilder umzuwandeln und mit Stimmen zu bestücken distanziert den Film deutlich von der ursprünglichen Leser- oder Betrachterfantasie. Und das führt meist zu Enttäuschung.

Da das Bilderbuch kaum meiner gesamten Leserschaft bekannt sein dürfte, nutze ich nun diesen doch recht ansprechenden Kurzfilm um sie zur Lektüre und Betrachtung zu motivieren. Denn Wolf Erlbruch verdient Horden von Lesern und Betrachtern.

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Was vom Lesen bleibt

„Literatur […] realisiert sich erst im Kopf des Lesers, durch die Imagination ihrer Stimmen, Töne, Rhythmen, Atembögen und Pausen, ihrer Figuren, Stimmungen, Handlungen und Orte, Farben, Schatten und Tönungen. Man muss sie in sich nachsprechen, nachschreiben, nachdenken. Man muss sie aus sich auftauchen lassen, sie noch einmal für sich formulieren. Was vom Lesen bleibt, das sind individuelle Erinnerungen an konkrete Einzelheiten, Tonlagen, Halbsätze, Verszeilen,Ereignisse, abstrakte Schemen, nicht mehr." (Heike Gfrereis: Nichts als schmutzige Finger. Soll man Literatur ausstellen?)

(Bild:Norman Rockwell - Boy Reading an Adventure Story)

Montag, 5. Dezember 2011

Check us out!






(Madison Public Library campaign by Dave Olson)

Sonntag, 4. Dezember 2011

2. Advent

"Die Winter im Norden sind eine Heimsuchung, eine Strafe, eine Plage. Die Luft ist zäh vor Kälte und macht die Gesichter welk, die Augen tränen, die Nasen fließen und die Haut zerspringt. Die Erde ist dort wie blinkendes Glas und der Wind wie stechende Wespen. Wen es in den Norden verschlägt, der sehnt sich vor schmerzhafter Kälte danach, ins Höllenfeuer einzugehen." (Quazwini, Zwölftes Jahrhundert)

(Bildquelle: unikatissima.de)

Freitag, 2. Dezember 2011

Zum Verrücktwerden schön

„Der Himmel war aus Zitrone mit Himbeerwasser, es war zum Verrücktwerden. […] Schön war das hier, und man konnte sich auf die Erde setzen und sich vor Freude ins Hemd weinen.“ (Janosch – Cholonek oder Der liebe Gott aus Lehm)

(Bild: Heinrich Kühn (ca. 1910)- Miss Mary and Edeltrude at the Hill Crest)

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Vorweihnachtliche Gedenkminuten


Heute früh erfuhr ich auf Zeit-Online, dass der tschechische Zeichner Zdenek Miler, Erfinder des kleinen Maulwurfs, verstorben ist. Heute Nachmittag gibt es deshalb einige voweihnachtliche Gedenkminuten in Filmform.

"Die Idee zu der Figur kam Miler 1956 bei einem Silvesterspaziergang nahe seiner Geburtsstadt Kladno, als er über einen Maulwurfshügel stolperte. Der erste Zeichentrickfilm mit dem stummen Gesellen mit den großen Augen und der roten Nase erschien 1957 und gewann beim Filmfestival in Venedig einen Silbernen Löwen."

(Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2011-11/zeichner-miller-maulwurf)

Sonntag, 27. November 2011

1. Advent


Advent

Es blaut die Nacht, die Sternlein blinken,
Schneeflöcklein leis herniedersinken.
Auf Edeltännleins grünem Wipfel
häuft sich ein kleiner weißer Zipfel.
Und dort vom Fenster her durchbricht
den dunklen Tann ein warmes Licht.
Im Forsthaus kniet bei Kerzenschimmer
die Försterin im Herrenzimmer.
In dieser wunderschönen Nacht
hat sie den Förster umgebracht.
Er war ihr bei des Heimes Pflege
seit langer Zeit schon sehr im Wege.
So kam sie mit sich überein:
am Niklasabend muß es sein.
Und als das Rehlein ging zur Ruh',
das Häslein tat die Augen zu,
erlegte sie direkt von vorn
den Gatten über Kimm und Korn.
Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase
zwei-, drei-, viermal die Schnuppernase
und ruhet weiter süß im Dunkeln,
derweil die Sternlein traulich funkeln.
Und in der guten Stube drinnen
da läuft des Försters Blut von hinnen.
Nun muß die Försterin sich eilen,
den Gatten sauber zu zerteilen.
Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen
nach Waidmanns Sitte aufgebrochen.
Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied
(was der Gemahl bisher vermied) -,
behält ein Teil Filet zurück
als festtägliches Bratenstück
und packt zum Schluß, es geht auf vier,
die Reste in Geschenkpapier.
Da tönt's von fern wie Silberschellen,
im Dorfe hört man Hunde bellen.
Wer ist's, der in so tiefer Nacht
im Schnee noch seine Runde macht?
Knecht Ruprecht kommt mit goldnem Schlitten
auf einem Hirsch herangeritten!
He, gute Frau, habt ihr noch Sachen,
die armen Menschen Freude machen?
Des Försters Haus ist tiefverschneit,
doch seine Frau steht schon bereit:
Die sechs Pakete, heil'ger Mann,
's ist alles, was ich geben kann.
Die Silberschellen klingen leise,
Knecht Ruprecht macht sich auf die Reise.
Im Försterhaus die Kerze brennt,
ein Sternlein blinkt - es ist Advent.

Loriot



(Textquelle: http://www.personal.uni-jena.de/~dps/advent.html,
Bild: Matthias Stomer (1600-1650): Lesender junger Mann bei Kerzenlicht)

Freitag, 25. November 2011

Become someone else






(Become someone else by Love Agency for Mint Vinetu Bookstore)

Dienstag, 22. November 2011

Zu viele Gedanken

"Man macht sich vielleicht zu viele Gedanken. Andererseits denke ich immer, is das besser, wenn man sich viel denkt, man lebt nicht wie eine Henne blöde vor sich hin. [...] In Schlawienschitz ist einer verrückt geworden vom Überlegen. Alles ist gut und schlecht zusammen. [...] Wenn man sich die ganze Sache richtig überlegt, hat das ganze Überlegen keinen Zweck." (Janosch - Cholonek oder Der Liebe Gott aus Lehm)

(Künstler: Grandville)

Montag, 21. November 2011

The Hidden Alphabet


(Laura Vaccaro Seeger - The Hidden Alphabet)

Montag, 14. November 2011

Herbst

"Jeder Mensch sollte eine dunkle Baumkrone vor dem Fenster haben oder ein schwarzes Schieferdach auf der anderen Straßenseite, irgendetwas, auf das er starren kann, um herauszufinden ob es regnet. Wir brauchen ein Grundrecht auf Schwärze. Ich werde mich dafür einsetzen. Die Nacht wurde erfunden, damit wir uns Stück für Stück an die Dunkelheit gewöhnen. Der Schlaf wurde erfunden, damit wir uns Nacht für Nacht an den Tod gewöhnen. Mach das Licht aus. Manchmal ergibt sich aus langen Gedankengängen nichts weiter, als dass Herbst ist." (Juli Zeh - Corpus Delicti)

(Fotokünstler: Sarolta Ban)

Samstag, 12. November 2011

"Es war gegen Ende des November..."


"Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn mit vollem Dampf Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; auf zehn Schritte konnte man rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Waggons nur mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die nicht aus sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel."
(Fëdor Michajlovič Dostoevskij: Der Idiot)

(Bild: James Jaques-Joseph Tissot: Gentleman_im_Zugabteil)

Donnerstag, 10. November 2011

Die Einseitigkeit der Wissenschaften


"Soll ich alle diese Fähigkeiten, und alle diese Kräfte und dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insektengattung kennen zu lernen, oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen? Ach, mich ekelt vor dieser Einseitigkeit! Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anderes sah, als seine krumme Linie, und daß ihm an ihrem Herzen nichts merkwürdig war, als sein Kubikinhalt. Bei den Küssen seines Weibes denkt ein echter Chemiker nichts, als daß ihr Atem Stickgas und Kohlenstoffgas ist. Wenn die Sonne glühend über den Horizont heraufsteigt, so fällt ihm weiter nichts ein, als daß sie eigentlich noch nicht da ist - Er sieht bloß das Insekt, nicht die Erde, die es trägt, und wenn der bunte Holzspecht an die Fichte klopft, oder im Wipfel der Eiche die wilde Taube zärtlich girrt, so fällt ihm bloß ein, wie gut sie sich ausnehmen würden, wenn sie ausgestopft wären. Die ganze Erde ist dem Botaniker nur ein großes Herbarium, und an der wehmütigen Trauerbirke, wie an dem Veilchen, das unter ihrem Schatten blüht, ist ihm nichts merkwürdig, als ihr linnéischer Name. Dagegen ist die Gegend dem Mineralogen nur schön, wenn sie steinig ist, und wenn der alpinische Granit von ihm bis in die Wolken strebt, so tut es ihm nur leid, daß er ihn nicht in die Tasche stecken kann, um ihn in den Glasschrank neben die andern Fossile zu setzen - O wie traurig ist diese zyklopische Einseitigkeit!" (Quelle: Brief von Heinrich von Kleist an Adolfine von Werdeck, 29.7.1801)


(Textquelle: kleist.org; Bildquelle: zeno.org)

Mittwoch, 9. November 2011

Flaschenpost


14. Februar 1873: „Nachmittag wurde Flaschenpost ausgesendet, und zwar nach Norden, Süden, Osten und Westen. Die Post wurde in Flaschen gegeben, die Flaschen verkorkt und versiegelt und so die Flaschen dem Eis übergeben. Die Flaschen enthielten Nachrichten von unserer Expedition und sollen von uns Kunde geben, für den Fall, daß wir zugrunde gehen sollten und kein Mensch mehr was sieht von uns allen Vierundzwanzig.
Johann Haller
[Erster Jäger, Heiler und Hundetreiber der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition 1872-1874]
[…]
Achtundvierzig Jahre wird es dauern, bis ein norwegischer Robbenschläger die erste der […] Flaschen an der Westküste von Nowaja Semlja finden wird; die in dem Dokument angegebenen Adressaten – die Marinesektion Wien und die kaiserlich-königlichen Konsulate – werden zu dieser Zeit bereits verschwunden sein, die Monarchie aufgelöst und die Expeditionskommandanten längst tot.“ (Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis)

(Bild: Serie "Nordpolexpedition von Graf Wilczek" Le Tegetthoff entouré de glaces prés les iles a la nouvelle zemble Phot. Wilhelm Burger um 1872; Bildquelle: courios.at/norpolexpedition.htm)

Dienstag, 8. November 2011

Find your book





(Werbekampagne für Gandhi-Bookstores, Werbeagentur:Ogilvy and Mather,
Bidquelle: mymodernmet.com)

Sonntag, 6. November 2011

Kein Nebenbeimedium


"Das Buch ist kein Nebenbeimedium: Es bindet beim Lesen den wichtigen Gesichtssinn [...] und verlangt wegen der im Buch nicht selten dargestellten komplexen Sachverhalte erhebliche mentale Anstrengungen, Konzentration und Zeitaufwand. Nicht nur diese Eigenschaften charakterisieren das Buch als vergleichsweise schwieriges Medium, sondern auch seine Rezeption: Es erschließt sich [...] nur durchs Lesen." (Artikel "Buch" in "Das BuchMarktBuch")

(Bild: Old man reading by Jim Armstrong)

Mittwoch, 2. November 2011

Eine Schiffsladung Bücher


"Ein Buch also", sagte Fagerlien [...], wandte sich von seinem Gast ab und starrte in den Regen hinaus, "...noch ein Buch; auf jedes Abenteuer entfällt mittlerweile eine Schiffsladung Bücher, eine ganze Bibliothek..."
"Und aus jeder Bibliothek kommt wieder ein Abenteurer", versuchte Mazzini einen bescheidenen Ausfall aus seiner schweigenden und nickenden Zustimmung.
Aber Fagerlien behielt seine Haltung und das letzte Wort: "Oder ein Tourist."

(Christoph Ransmayr - Die Schrecken des Eises und der Finsternis)

(Bildquelle: teachingliteracy.tumblr.com)

Dienstag, 1. November 2011

Gruselett


Gruselett
Christian Morgenstern


Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert,
und grausig gutzt der Golz.




(Bildquelle: http://womenreading.tumblr.com)

Montag, 31. Oktober 2011

Von Wiedergängern, Nachzehrern, Neuntötern und ihren Opfern

(Max Klinger nach Arnold Böcklin - Die Toteninsel (Radierung und Aquatinta 1890)

1. Was sollten wir fürchten?
Von Wiedergängern, Nachzehrern, Neuntötern und ihren Opfern


Unter Wiedergängern verstand man ursprünglich diejenigen Toten, die abweichend von allen üblichen Riten bestattet worden waren. „Erhielten sie nicht die richtigen Beigaben oder Opfer, wurde die Blutrache nicht vollzogen, wurde überhaupt bei Bestattung, Klage, Kult oder Trauer etwas vernachlässigt, oder konnte die Leiche überhaupt nicht gefunden und begraben werden ..., so erschien der Tote mahnend und strafend. Die Begräbnisriten sollten ihm Genugtuung verschaffen, manche sollten auch abwehrend wirken. Bei einzelnen Toten waren aber diese Maßnahmen nicht wirksam: bei besonders mächtigen oder bösartigen Menschen oder bei solchen, die eines „schlechten" oder vorzeitigen Todes gestorben waren. Dies sind nun die eigentlichen Wiedergänger und dadurch von gewöhnlichen Toten unterschieden, daß sie länger als üblich wiedererschienen, und daß sie meist einen bösen Charakter haben.“ […] Nicht selten liegt die Betonung auf den sogenannten „bösen“ Toten, und auch ganz spezielle Gruppen erfahren in diesem Zusammenhang eine Erwähnung. So handelt es sich nach den Quellen oft um Räuber, um hingerichtete, aber nicht ordnungsgemäß bestattete Verbrecher, um Selbstmörder, um totgeborene und ungetaufte Kinder oder um Frauen, die während des Kindbetts verstorben waren.

Der sogenannte Nachzehrer muß als eine besondere Art von Wiedergänger betrachtet werden. Er zehrt im Grabe liegend mit dem Mund an Teilen seines eigenen Körpers, an Textilien und dergleichen und zieht so durch rein sympathische Wirkung seine Opfer nach. Als Gründe für dieses Verhalten werden wiederum Bosheit des Toten, seine Gier nach Leben oder eine fortwährende Verbundenheit mit den Angehörigen genannt. Aber auch ein Gegenstand, der einem Lebenden gehört und ins Grab gelangt ist, könnte den Tod des Besitzers nach sich ziehen. Magdalena Sybilla Reichsgräfin von Rochlitz, die Maitresse des Kurfürsten Johann Georg IV., starb am 4. April 1694 an Pocken. Nur zwanzig Tage später verschied auch der Kurfürst an selbiger Krankheit. Der neue Kurfürst ließ kurze Zeit später das Grab der Gräfin öffnen, „um ihr ein aus dem Haar Johann Georgs geflochtenes Armband abzunehmen. Die Mutter der Gräfin wurde später unter anderem deswegen angeklagt, weil sie mit Hilfe des mitbestatteten Haarbandes den Tod des Kurfürsten gefördert habe.“

Weitere Varianten des Nachzehrers sind die sogenannten Neuntöter. Hierunter werden Kinder, die mit Zähnen oder mit einer doppelten Reihe von Zähnen zur Welt gekommen,geführt. Sie sterben früh, ziehen aber ihre nächsten neun Verwandten nach sich und werden oft für die Pest verantwortlich gemacht.

2. Wie können wir uns schützen?
Antivampiristische Vorkehrungen – Traditionelle Schutzmaßnahmen gegen Wiedergänger, Nachzehrer und Vampire


Als wohl oft praktizierte und auch durch Ausgrabungen belegbare Methode muß die Leichenversteinerung genannt werden. Das Plazieren von teilweise sehr großen Steinen auf Kopf, Brust, Beinen oder anderen Körperteilen lässt schnell eine Wiedergänger- bzw. Vampirbestattung vermuten. Es erfolgte ein „Festmachen“ des Toten, so daß ein Verlassen des Grabes unmöglich gemacht wurde. Steinhaufen, welche über potentiellen Wiedergängern errichtet wurden, sind auch aus den isländischen Sagas überliefert.

Neben der Totenbannung mit Hilfe von Steinen kam auch das Prinzip der Nagelung zum Einsatz. So stellte R. Beltz bei der Bearbeitung von wendischen Gräberfeldern die bemerkenswerte These auf, daß die hier ohnehin nur in geringer Zahl gefundenen Nägel nicht von Särgen stammen, sondern dem rituellen Gebrauch zuzurechnen seien. Genau wie bei der Verwendung von Steinen sollte der Tote am Verlassen des Grabes gehindert werden, wobei entweder lediglich die Kleidung oder auch - in extremeren Fällen - Hände und oder Füße am Sargboden fixiert wurden.

Durch in den Mund des Toten gelegte Steine, Metallstücke, Tonziegelscherben, Münzen oder ähnliches war es ebenso möglich, den Nachzehrer am Verlassen des Grabes zu hindern. Zur Verwendung gelangten unvergängliche Materialien, so daß der Tote nie Mangel an Verzehrbarem hatte und somit auch kein Grund bestand, sein Grab zu verlassen. Besonders die angeführten Münzen bzw. ihre Spuren sind im archäologischen Befund oft vertreten, so beispielsweise auf dem bekannten Silberberg bei Wollin oder in Niedersedlitz bei Dresden, wo der Unterkiefer eines Kindes einen sogenannten Wendenpfennig barg. […] Neben ihrer Funktion im Kampf gegen Vampire und Wiedergänger sind jedoch bei solchen Münzbeigaben auch andere Deutungsmöglichkeiten vorstellbar. Der aus der Antike bekannte griechische Charonsgedanke, der in der Münze den notwendige Obulus zur Fahrt ins Jenseits sieht, muß hier Erwähnung finden. Allerdings nimmt R. Grenz an, daß sich beide Motive nicht grundsätzlich ausschließen müssen, denn das „Fährgeld“ sollte ja auch das Verlassen des Reiches der Lebenden ermöglichen.

Legte man den „lebenden Leichnam“ mit dem Gesicht nach unten ins Grab, blieb der Mund verschlossen und die Seele konnte nicht durch ihn entweichen. Auf diese Weise wurde verhindert, den Toten zu einem Wiedergänger werden zu lassen.

Das Zerstückeln der Toten, das Abschlagen des Kopfes und das Pfählen waren weitere Möglichkeiten zur Bekämpfung des Vampir- bzw. Wiedergängertums. Gerade aus volkskundlicher wie auch aus völkerkundlicher Sicht wird das Pfählen eines Toten als Vorkehrung genannt, die sein „Wiederkommens“ verhindern soll.


3. Was ist der Ursprung? - Biologische Erklärungsmuster

„Bereits im 17. Jahrhundert vermutete man, was modernen Hygienikern zur Sicherheit wurde“, daß nämlich all diese [vampirartige] Erscheinungen mit Abläufen des Verwesungsprozesses in Zusammenhang stehen und speziell auf Fäulnis bedingte Gasbildung im Körper des Verstorbenen zurückzuführen sind. Diese hat auch bei vorher mageren Toten einen „fetten und vollkommenen“ Leib zur Folge. Es sammelt sich in der Brusthöhle blutuntermengte Fäulnisflüssigkeit, die dann durch den Gasdruck aus Mund und Nase entweicht und den Eindruck erweckt, der Leichnam blute noch ganz frisch, auch gebe er Geräusche von sich. Beim Pfählen vermeintlicher Vampire entstandene „Töne“ können auf ein Zusammenpressen des Brustkorbs und einer hieraus resultierenden Bewegung der Stimmbänder zurückgeführt werden. Postmortaler Flüssigkeitsverlust führt zu einem Einsinken der Haut, so daß Haare und Nägel deutlicher hervortreten und den Anschein erwecken, sie seien im Grab noch gewachsen. Abgesehen von solchen Eintrocknungs-erscheinungen kommt es etwa am Ende der zweiten Fäulniswoche dazu, daß sich die Oberhaut mitsamt ihren Anhangsgebilden, den Nägeln, ablöst; danach liegt die rosig und feucht anmutende Lederhaut frei und ebenso die Nagelbetten, wodurch dem oberflächlichen Betrachter das Vorhandensein „zarter, gepflegter, neuer Nägel
vorgetäuscht werden kann.“


Ich habe bei der Lektüre viel gelernt, darum teile ich nun
ANNETT STÜLZEBACHS "Vampir- und Wiedergängererscheinungen aus volkskundlicher und archäologischer Sicht" in Auszügen mit euch (vollständige digitale Textversion: http://cma.gbv.de/dr,cma,001,1998,a,06.pdf)

Sonntag, 30. Oktober 2011

Janosch für Erwachsene

Am Anfang steht ein Anruf. Der Angerufene: Alex Bukowski. Am anderen Ende: Marlene. Die Botschaft: Einladung zum Spaghettiessen.
„Normalerweise nicht schlecht: eine ruft dich an mit einem läppischen Vorwand, du sollst zu ihr kommen, keiner wird da sein, nur du und sie natürlich, und du denkst: Aha, ein Signal.“ Aber bei Marlene ist das anders. Marlene, die so „sauschön ordinär, tief breit und laut“ lachen kann, ruft Alex nur an, wenn sie wieder Liebeskummer hat. Sie will immer nur reden. Aber Alex will eigentlich was ganz anderes (ein neues Wort vermittelte mir das Buch an dieser Stelle: Alex will Marlene nämlich „pudern“). Ob er die Einladung annehmen soll, ist nun die Frage.

Alex ist sich sicher, dass er sich entscheiden könnte, wenn er nur jemanden finden würde, der sich alle seine Sorgen und Gedanken anhört. Alex hat nämlich seit über fünf Wochen nicht mehr richtig geredet. Denn von seinen Gesprächspartnern wird er grundsätzlich nach wenigen Sätzen unterbrochen. Sie alle haben ihm etwas unglaublich Wichtiges zu erzählen. Auf der Suche nach einem Zuhörer zieht Alex nun tagelang erfolglos durch seine Stammkneipen. Man versucht ihn mit einer Nachbarin zu verkuppeln, politisch aufzuklären, zur kritischen Bibellektüre anzuregen und vom kulinarischen Wert von gekochtem Hund mit Salbei zu überzeugen. Er hört zahllose Lebensgeschichten und Ratschläge. Schließlich hört er auf zuzuhören und lauscht nur noch seinen eigenen Gedanken. Einen Zuhörer findet er bis zum Abend der Einladung nicht, aber am Ende steht er vor Marlenes Tür.

Es nicht der unglaublich unkomplexe Plot, der die Freude am Lesen förderte. Es ist auch nicht der kindheitserinnerungslastige Autorenname.
Es sind Sätze wie diese:
„Ich ekele mich […] vor dem Männergeruch hier. Intelligenzler dünsten aus, denn Ausdünstungen entstehen durch psychologische Störungen, durch Ängste, Unsicherheiten, ungelöste Probleme, Probleme erfinden ist aber eine markante Eigenschaft von Intelligenzlern, kurzum, sie stinken.“

Wem das gefallen hat, der hat einen neuen Entspannungslektüreautor für sich entdeckt.
Das gelesene Buch ist übrigens voller Zitatmarkierklebezettelchen. Es könnten also noch weitere Zitate folgen.

Samstag, 29. Oktober 2011

Die Schrecken des Eises und der Finsternis


(Bildquelle: zeit-maschine.at)

„Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern größer, so groß, daß er schließlich in ihr verschwand.
Mazzini, ein zweiunddreißigjähriger Wanderer, ging im arktischen Winter des Jahres 1981 in den Gletscherlandschaften Spitzbergens verloren. Es war ein privater Trauerfall, gewiß. Ein Verschollener, einer mehr, nichts Besonderes. Aber wenn einer verlorengeht, ohne einen greifbaren Rest zu hinterlassen, etwas, das man verbrennen, versenken oder verscharren kann, dann muß er wohl erst in den Geschichten, die man sich nach seinem Verschwinden über ihn zu erzählen beginnt, allmählich und endgültig aus der Welt geschafft werden. Fortgelebt hat in solchen Erzählungen noch keiner.“
(Christoph Ransmayr – Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984))

Ein Abenteuerroman, der geschickt historische Quellen mit einer fiktiven Rahmenhandlung verwebt.
Mazzini der auf den Spuren der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition (1872-1874) im ewigen Eis verschwindet. Und ein Erzähler der auf den geistigen Spuren Mazzinis sich selbst zu verlieren scheint. Ein Winterbuch für Fortgeschrittene.

Freitag, 28. Oktober 2011

Wer Brille hat, hat auch Verstand



"Frau Schwienteck war [...] eine Frau mit Verstand im Kopf. Ihr [...] Vater, der Kotyrba aus Brzenskowitz, trug Brille. "Wer Brille hat, hat auch Verstand", hatte Tante Hedel immer gesagt. "Bei uns in der Straße war ein Junge, da haben sie immer Sorge gehabt, denn er brauchte von klein auf Brille, sonst sah er nichts. Aber dann? Was is aus dem geworden?- Musiker und konnte nach schwersten Noten spielen." (Janosch - Cholonek oder der liebe Gott aus Lehm)

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Gedichts-verhandlung VII - Eugen Roth: Bücher

(Christian Krohg(1852-1925)- Oda with lamp)

Bücher

Ein Mensch, von Büchern hart bedrängt,
an die er lang sein Herz gehängt,
beschließt voll Tatkraft, sich zu wehren,
eh sie kaninchenhaft sich mehren.
Sogleich, aufs äußerste ergrimmt,
er ganze Reihn von Schmökern nimmt
und wirft sie wüst auf einen Haufen,
sie unbarmherzig zu verkaufen.
Der Haufen liegt, so wie er lag
am ersten, zweiten, dritten Tag.
Der Mensch beäugt in ungerührt
und ist dann plötzlich doch verführt,
noch einmal hinzusehen genauer-
Sieh da, der schöne Schopenhauer...
und schlägt ihn auf und liest und liest,
und merkt nicht, wie die Zeit verfließt...
Beschämt hat er nach Mitternacht
ihn auf den alten Platz gebracht.
Dorthin stellt er auch eigenhändig
den Herder, achtundzwanzigbändig.
E.T.A. Hoffmanns Neu-Entdeckung
schützt diesen auch vor Zwangs-Vollstreckung.
Kurzum, ein Schmöker nach dem andern
darf wieder auf die Bretter wandern.
Der Mensch, der so mit halben taten
beinah schon hätt den Geist verraten,
ist nun getröstet und erheitert,
daß die Entrümplung gescheitert.

Montag, 17. Oktober 2011

Gedichts-verhandlung VI - Unica Zürn: Anagrammgedichte

(Animalia Exstinta - Hugo Horita )

Das ist ein Anagrammgedicht,
Ein Anagramm ist das Gedicht
gemacht im Anti-Sarg, im Sande ...


Einen Satz nehmen und zur Überschrift erklären.
Aus ihm, durch Umstellung der Buchstaben, einen neuen Sinn generieren.
Zeile für Zeile aufs Neue.
Mich hat das fasziniert.

Die Nuetzlichkeit ist aller Laster Anfang
Zart sang ein Leichenkleid aus Flitter alt:
Neuland, Angst, ich friere kalt. Alle Zeit ist
aller Anfang. Die Nuetzlichkeit ist Laster.

(Montpellier 1955)

Ich weiss nicht, wie man die Liebe macht
Wie ich weiss, "macht" man die Liebe nicht.
Sie weint bei einem Wachslicht im Dach.
Ach, sie waechst im Lichten, im Winde bei
Nacht. Sie wacht im weichen Bilde, im Eis
des Niemals, im Bitten: wache, wie ich. Ich
weiss, wie ich macht man die Liebe nicht.

(Ermenonville 1959)

Guten Abend, mein Herr, wie geht es Ihnen?
Heim ins Grab, denn heute weht ein Regen.


Wer sich nun nach einer wirklich ausführlichen literaturwissenschaftlichen Erläuterung sehnt, der findet sie hier: http://www.medienaesthetik.de/literatur/zuern.html

(Quellen: medienaesthetik.de/literatur/zuern.html und iti.fh-flensburg.de/lang/fun/anagram/unica/ana15.htm)

Sonntag, 16. Oktober 2011

Drei Dinge, die Sie über Janosch wissen sollten

 Janosch : Mittagsruhe

1.)Janosch und Edmund Stoiber
Im Jahr 2007 hat „Edmund Stoiber […] den wohl bekanntesten deutschen Kinderbuchautor Janosch („Oh wie schön ist Panama") als „falschen Propheten" bezeichnet. Man dürfe nicht zulassen, dass Janosch mit seinen antireligiösen Zeichnungen und Kommentaren „Zugang zu unseren Kinderzimmern erlange", erklärte der CSU-Politiker in Berlin. Stattdessen müssten Kirche, Gesellschaft und Politik „an einem Strang ziehen" und den Kindern „Orientierung, Werte und Religion" vermitteln. Anlass der scharfen Attacke auf den beliebten Zeichner und Autor war offensichtlich der Abdruck einer Janosch-Zeichnung im Magazin „Der Spiegel". Das Bild mit dem Titel „Taufe" […]. In dem dazugehörigen Artikel wurde Janosch als Beiratsmitglied der religionskritischen Giordano Bruno Stiftung auch kurz zitiert: „Katholisch geboren worden zu sein, ist der größte Unfall meines Lebens." (Quelle:http://hpd.de/node/2126)



2.)Janosch und Panama
„Ich habe einen Orden erhalten, weil ich Panama mit meiner Geschichte bekannt gemacht habe. Ich vermute aber, dass der gar nicht echt ist. Jedenfalls liegt er zusammen mit mehreren Karnevalsorden in einer Kiste bei mir zu Hause.“ (Quelle: http://www.rp-online.de/kultur/mehr_kultur/Janosch-kann-die-Tigerente-nicht-ausstehen_aid_726289.html)

Die folgende Information stammt aus einem Interview, das ich irgendwann irgendwo las.
Mein Erinnerungsvermögen verfügt leider über kein zuverlässiges Quellenverzeichnis. Ihr müsst mir also einfach so glauben, dass das wahre Worte sind.
Janosch sagte er habe sich einmal überlegt welche Bestandteile man benötige um einen Bilderbuchbestseller zu schreiben. Die Antwort: einen Bär und eine Reise. So entstand dann „Oh wie schön ist Panama“.

3.)Janosch und die Tigerente
"Scheiß Tigerente! - Ich halte die für Kitsch. […] Ich habe die eigentlich nur aus Hohn gemalt. Meine Lieblingsfigur ist der Maulwurf, weil der blind ist und nicht raus muss und nicht singen muss." (Quelle: http://www.sueddeutsche.de/kultur/kinderbuchautor-janosch-tag-der-toten-ente-1.937910)


Ich trug dies zusammen, weil der freundliche Zufall mich zwei Romane von Janosch(in einem Band)hat finden lassen.

Samstag, 15. Oktober 2011

Wonderwall oder die musikalische Untermalung eines filmischen Meisterwerks

Wonderwall. Man könnte für diesen Film den Fachbegriff "Psychedelic Cinema" ersinnen. Man könnte ihn aber auch einfach als surreal und bildgewaltig bezeichnen. Man könnte erwähnen, dass die wenigen Dialoge im Gedächtnis haften bleiben, weil sie so treffend sind. Man könnte von dem Balanceakt zwischen Tragik und Komik sprechen. Man könnte darauf aufmerksam machen, dass man so wunderbar viele aussagekräftige Details im Hintergrund entdecken kann. Man könnte das aber auch einfach lassen und sich die Musik anhören...

...nachdem man mit einigen Internetlexikoninformationen eine Überleitung erzeugt hat.
"The soundtrack was composed by Beatle George Harrison, whom Massot approached specially for the project. Harrison had never done a film soundtrack, and told Massot he did not know how, but when Massot promised to use whatever Harrison created, Harrison took the job.
Deciding to make the soundtrack a kind of introduction to Indian music, Harrison recorded a series of short ragas at EMI's recording studio in Bombay in January 1968, then a selection of rock and other musical styles, at De Lane Lea Studios in London, England. Timing the segments with a stopwatch as he watched the unfinished film, Harrison built up a healthy, varied musical programme."



Freitag, 14. Oktober 2011

Ein Text - Verschiedene Lektüren



"Ein und derselbe Text erlaubt verschiedene Lektüren - ehrerbietige Lektüren, Lektüren, die nachzeichnen und sezieren, Lektüren, die das Rascheln unerhörter Töne vernehmen, und solche, die zum Vergnügen oder zur Belehrung triste kleine Pronomen zählen und eine Zeitlang nichts von golden oder von Äpfeln mitbekommen. Es gibt persönliche Lektüren, die sich persönliche Bedeutungen zusammenklauben: Liebe, Widerwillen, Angst, die den Leser beherrschen und ihn nach den entsprechenden Gefühlen suchen lassen. Und es gibt tatsächlich unpersönliche Lektüren, bei denen das geistige Auge die Zeilen verfolgt und das geistige Ohr sie singen hört. Hin und wieder gibt es Lektüren, die dem Leser buchstäblich die Haare zu Berge stehen lassen, wo jedes einzelne Wort lodert und leuchtet - hart und klar, unendlich und unmißverständlich, wie feurige Steine, wie Sternenfunkeln im Dunkeln."(Antonia S. Byatt: Besessen)

(Bildquelle: womenreading.tumblr.com)

Montag, 10. Oktober 2011

Musikalischer Kurzurlaub...



...und auf gehts in den Norden.

Sonntag, 9. Oktober 2011

The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde...Teil2

"Here then, as I lay down the pen and proceed to seal up my confession, I bring the life of that unhappy Henry Jekyll to an end."
(Robert Louis Stevenson - Dr. Jekyll and Mr. Hyde)

2006 hat die BBC sich an die Verfilmung einer modernen Fortsetzung von "The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde" gewagt.
Kurze Inhaltsangabe: Als Tom Jackman, ein Nachfahre von Dr. Jekyll, entdeckt, dass er beginnt sich in regelmäßigen Abständen in eine Art Mr. Hyde zu verwandeln, zieht er sich von seiner Familie zurück und trifft Sicherheitsmaßnahmen um diese zu schützen. Das ihm konstant ein dunkler Lieferwagen folgt, bemerkt Jackman, der nun einen konstanten Kampf mit sich selbst führen muss, leider zu spät.
Kurzes Urteil: Vier der sechs Folgen würde ich im doppelten Wortsinn als fantastisch bezeichnen. Dem Ende mangelt es jedoch leider etwas an Struktur und Logik. Ihre Großartigkeit verdankt die Serie dabei hauptsächlich der Schauspielkunst des Hauptdarstellers James Nesbitt, der beunruhigend glaubhaft die beiden Extreme darstellt.
Kurz: Ich finds gut. Schauts euch an.
Kurzer Ausschnitt: Als kleiner Anreiz eine meiner Lieblingsszenen mit Hyde:

Freitag, 7. Oktober 2011

Literarische Fiktion oder es gibt Bücher, die gibts gar nicht.


Es ist zu Anfang festzustellen, dass das fiktive Buch häufig auch das mächtige Buch ist. Ein Buch, das über das bloße Buchsein hinausgewachsen ist.

Wie etwa Michael Endes Unendliche Geschichte (gemeint ist das Buch im Buch), kann es für den richtigen Leser den Weg in eine Parallelwelt öffnen. Dadurch dass Ende in seinem Werk die geistige Reise des Lesers wörtlich nimmt, wird aus einem Buch ein Tor in das Reich der Phantasie.

Susanna Clarke erschuf für ihre magische Alternative History Jonathan Strange and Mr Norrell eine ganze Fachbibliothek seltenster antiquarischer Werke, die sich mit der Geschichte und der Ausübung der Magie beschäftigen - Books of magic and books about magic. Hunderte von Fußnoten voller Primär- und Sekundärtexte füllen die 1006 Seiten. Trotz des scheinbar verstaubt wissenschaftlichen Ansatzes, haben wir es auch hier mit mächtigen, mit magischen Büchern zu tun.

Aber das bekannteste und zugleich mächtigste fiktive Buch ist wohl nach wie vor Lovecraft’s „forbidden Necronomicon of the mad Arab Abdul Alhazred“, angefüllt mit geheimem Wissen über verbotene Kulte, unaussprechliche Rituale und unbegreiflich alte und böse Wesenheiten. Ein verbotenes Buch, das vom Zeitpunkt seiner fiktiven Niederschrift bis in die Gegenwart lovecraftscher Erzählungen kontinuierlich kopiert, übersetzt und weitergereicht wurde. Ein Buch, das von den geistig Gesunden gefürchtet und gemieden werden sollte. Ein Buch übrigens, das als Vorbild eines anderen fiktiven Buches gelten kann.

Vorbild für eines der vielen fiktiven Werke, die die Regalbretter in Walter Moers Zamonien füllen. Vorbild für das Blutige Buch, Hauptwerk der zamonischen Dämonistik. Ein in Fledertrattenflügelhaut gebundenes und angeblich mit Dämonenblut geschriebenes Werk des Schreckens, das so grauenvoll ist, dass es nur Satzweise „genossen“ werden kann. Aber lest selbst:

"Hexen stehen immer zwischen Birken"

"Der Schatten, den du wirfst ist nicht dein eigener."

"Wenn du deine Augen schließt, kommen die Anderen."






(Quellen: http://de.zamonien.wikia.com/wiki/Das_Blutige_Buch; http://www.hplovecraft.com/creation/necron/stories.asp

Montag, 3. Oktober 2011

John Hulmes - De Translatione Nursery Rhymes. Von den schwindelerregenden Möglichkeiten referentieller Verirrung im älteren angelsächsischen Liedgut

In einem der vielen Häuser in dieser wundervollen Stadt, in dem ich einmal lebte, hatte sich eine schöne Tradition eingeschlichen. Wer ein Buch besaß, an dessen Besitz er kein Interesse mehr hatte, der bereicherte sich nicht etwa mit dem Verkauf des betreffenden Werkes oder übereignete es sogar einem der Abfall-Sammelbehälter der städtischen Müllentsorgung. Nein, er platzierte es gut sichtbar an einer bestimmten Stelle in der Einfahrt, damit es einen neuen Besitzer finden konnte. Das ganze hatte etwas Magisches. Man legte ein Buch hinaus und schaute dann wie lange es wohl liegen bleiben würde. War es dann plötzlich verschwunden stellte man sich unweigerlich die Frage, wo das Werk denn nun ein neues Heim gefunden haben mochte, denn das Mietshaus war nicht klein zu nennen. Fand man selbst ein Buch, das einem gefiel und nahm es mit sich, so war dies ein Gefühl als wäre Nikolaus vorverlegt worden. Auf diesem Wege haben einige Bücher, die ich unter normalen Umständen wohl nie besessen hätte, ihren Platz in meinem Regal gefunden. Eines möchte ich meiner werten Leserschaft heute vorstellen:
Ein Blick ins Vorwort verrät, dass „die Gedichte in diesem tiefsinnigen Bändchen aus dem Nachlaß eines exzentrischen englischen Lords stammen, bei dem ich [der ursprüngliche Herausgeber] 57Jahre lang als Butler gedient habe. Dieser bemerkenswerte Mensch lebte ganz alleine […] in einem verfallenen Schloß nicht weit von Windsor, wo seine Urahnen schon seit 1291 ohne fließendes Wasser existiert haben.“ Das Nachwort der wissenschaftlichen Herausgeber erläutert darüber hinaus, dass „für die Neuausgabe […] die erklärenden Beigaben des Herausgebers unverändert übernommen wurden, jedoch ein Titel gewählt wurde, den die Ergebnisse der inzwischen profilierten textkritischen Forschungen nahe legen. […] In dem Schlüsselbegriff translatio ist […] der Aspekt der Über-Setzung als ein komplexes syntakto-semantisches transnationales Aneignungsverfahren in einem mehrfachen Sinne „aufgehoben“.“

Und nun einige aussagekräftige Auszüge:

Allah fur girl sinned shown tar
Allah fur girl, Allah (1).
Am cell dross elf ink hunt star
Undie (2) can Sir foe girl Shah
Finch hen dear iron coo (3)tis yah!
Lout (4) air high land say gun.

Anmerkungen:
(1)Wegen ihrer Sünden sitzt sie in einem Pelzmantel in ihrer Zelle und ruft Allah an.
(2)Ein Zwerg mit Schlacke jagt nach der Unterwäscheeiner Filmgröße
(3)Tauben gurren, Finken und Hühner aber selten. Viellecht sind persische anders.
(4)Dieser Lümmel schießt sie trotzdem.



Dee bloomer line sees laugh hen (1)
Shown length Tim (2) moan den shine
See Nick (3) hen mid den curb (4) shun
How fear hens Tengah (5) line


Anmerkungen:
(1) Die Schlupfhosen an der Leine bringen das Huhn zum Lachen.
(2) Timotheus: Märtyrer und katholischer Heiliger (Feiertag am 24. Januar)
(3) Nikolaus von der Flüe („Bruder Klaus“), hoch verehrter Volksheiliger (1417-1487) in der Schweiz)

(4) Hasenfuß kommt bei Hühnern verhältnismäßig selten vor
(5) Stadt in Singapur


Die Auflösung:
Wer bisher nicht entnervt die Lektüre beendet hat, wird wohl bereits ahnen, dass wir es hier mit einer Wissenschafts-Satire zu tun haben. Bei den Gedichten handelt es sich um bekannte deutsche Kinderlieder, die in einer Art englischen Lautschrift wiedergegeben sind. Das ganze Buch gleicht dabei in Form, Aufbau und Gestaltung einer textkritischen Ausgabe. Man könnte sagen, dass das ein Literaturwissenschaftlerwitzbuch ist, weshalb es wohl auch nur die Mitglieder dieser Spezies rückhaltlos komisch finden werden. Da kommt es gar nicht so unerwartet, dass ich es großartig finde.

Sonntag, 2. Oktober 2011

Holland House

(Bildquelle: http://www.siue.edu/~ejoy/HollandHouseLibraryText.htm)

Leser in der zerstörten Bibliothek von Holland House, London, die am 22.Oktober 1940 von einer Brandbombe getroffen wurde.

Freitag, 30. September 2011

Secret World

(‘thinking’ by Luís Alves)

"Everybody has a secret world inside of them. All of the people of the world, I mean everybody. No matter how dull and boring they are on the outside, inside them they've all got unimaginable, magnificent, wonderful, stupid, amazing worlds. Not just one world. Hundreds of them. Thousands maybe." (The Sandman - Neil Gaiman)

Donnerstag, 29. September 2011

6 Dinge, die sie über das häufigste Gebildbrot Deutschlands wissen sollten

(Quelle: ansichtskarten-center.de)


1.) Einige Verse zur Entstehung

Der Uracher Brezelbäck
Es war einmal ein Brezelbäck
dem sprach der Graf das Leben weg
doch weil er guten Leumunds war
bot ihm der Graf ein' Rettung dar:
Back ein Brot lieber Freund
durch das die Sonne dreimal scheint
dann wirst du diesmal nicht gehängt
das Leben sei Dir frei geschenkt"
Der schlaue Bäck bedachte sehr
drei Tage braucht' er und nicht mehr
dann brachte er mit sichrem Schritt
dem Grafen eine Brezel mit.
Er hielt sie ihm vors Auge hin
die Sonne dreimal dadurch schien
der Graf, er lächelte darauf
und aß die ganze Brezel auf.
Drum kauf' dir Brezeln liebes Kind
weil die so sehr historisch sind !

2.) Einige Worte zur Etymologie

"Wort und Sache sind hauptsächlich mit dem oberdeutschen Raum verbunden, und alle Dialektvarianten sind bereits im Mittelalter belegt; sie gehen allesamt letzten Endes auf Ableitungen von lat[einisch] brachium ‚Arm‘ zurück (spätlat[einisch] auch brāc[c]hium [...]): eines der vielen lat[einischen] Lehnwörter der aufblühenden karolingischen Klosterkultur. Hier handelt es sich um die Bezeichnung für ein urspr[üngliches] ‚Devotionsgebäck‘, darum noch heute in katholischen Gegenden Oberdeutschlands besonders heimisch [...]). Das Benennungsmotiv sind die verkreuzten Enden, die mit ineinander geschlungenen Armen verglichen wurden." (Quellen: u.a. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache)

3.) Einige Brezelvokabeln - Zur Erweiterung des Wortschatzes

Breznsoizer (Brezensalzer) - eine Person, die untergeordnete Tätigkeiten ausübt. (Der Begriff stammt vermutlich aus der Umgangssprache der Bäcker, die das Salzen der Brezeln gerne den Lehrlingen überließen.)

Sich/etwas zerbrezeln - stürzen, verunfallen, zerstört werden

Jemandem eine Brezn geben - jemanden verbal oder körperlich attackieren

sich aufbrezeln - gut anziehen, schminken, sich herausputzen

eine Brezel haben / A Brezg em Gsicht - betrunken / angeheitert sein.

4.) Völlig unnützes Wissen

Das Bremer Zentrum für Literaturdokumentation in der Germanistik des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Bremen nennt sich abgekürzt BreZeL.

5.) Einige Brezelbräuche

In vielen Gegenden ist es jahrhundertealter Brauch, am ersten Tag des neuen Jahres eine (süße) Brezel als Glücks- und Liebesbringer zu verschenken und zu verzehren.

In der Nacht zum 1. Mai malten in früheren Zeiten verliebte Jungs eine Brezel bei der heimlich Angebeteten auf das Scheunentor oder die Haustür. Ebenso wie sie eine Liebesbezeugung sein konnte, bedeutete sie – auf dem Kopf stehend – eine Schande für das Mädchen.


6.) Die Frage, die uns alle bewegt: Welcher Brezeltyp bist du?

Zum Test:
http://www.brezel-baecker.de/brezelgeschichte#kapitel15

(Quellen: brezel-baecker.de, Wikipedia)

Mittwoch, 28. September 2011

Tableau vivant

"Lebende Bilder (franz. Tableaux vivants), Darstellungen von Werken der Malerei und Plastik durch lebende Personen, die schon im römischen Altertum bei festlichen Gelagen von Gauklern und Tänzern, gewöhnlich am Schlusse von Pantomimen, zur Anschauung gebracht wurden. Von Rom verbreiteten sie sich über das Abendland, und namentlich nach Byzanz, wo sich die spätere Kaiserin Theodora, die Gemahlin Justinians 1., die in ihrer Jugend Tänzerin und Pantomimistin gewesen war, in Attitüden hervortat. In neuerer Zeit wurde das Genre durch Frau v. Genlis (s. d.), die Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orléans, wieder belebt, die zur Belehrung und Unterhaltung ihrer Zöglinge dergleichen Darstellungen arrangierte und sich dabei der Hilfe der Maler David und Isabey bediente." (Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 281)

(tableau vivant created by visual artist Adad Hannah)

(The Raft of the Medusa, 1818-19, Théodore Géricault)

Dienstag, 27. September 2011

Samuel Beckett - Endspiel


"Endspiel (frz. Fin de partie, engl. Endgame) ist ein absurdes Theaterstück von Samuel Beckett aus dem Jahr 1956. [...] Die deutsche Premiere unter der Regie von Hans Bauer am 30. September 1957 im Schlossparktheater, Berlin, stieß auf so großes Unverständnis, dass das Stück bereits nach acht Vorstellungen abgesetzt wurde."
... zur Feier des sich diese Woche jährenden Unverständnisses, ein paar Ausschnitte:



HAMM: Ich werde dir nichts mehr zu essen geben.

CLOV: Dann werden wir sterben.

HAMM: Ich werde dir gerade soviel geben, daß du nicht sterben kannst. Du wirst die ganze Zeit Hunger haben.

CLOV: Dann werden wir nicht sterben. [...]

HAMM: [...] Ich werde dir einen Zwieback pro Tag geben. Pause. Anderthalb Zwieback. Pause. Warum bleibst du bei mir?

CLOV: Warum behältst du mich?

HAMM: Es gibt sonst niemand.

CLOV: Es gibt sonst keine Stelle.

Pause

HAMM: Und doch verläßt du mich.

CLOV: Ich versuch's.

HAMM: Du magst mich nicht.

CLOV: Nein.

HAMM: Früher mochtest du mich.

CLOV überdrüssig: Früher!

HAMM: Ich habe dich zuviel leiden lassen. Pause. Nicht wahr?

CLOV: Das ist es nicht.

HAMM entrüstet: Ich habe dich nicht zuviel leiden lassen?

CLOV: Doch.

HAMM erleichtert: Ah! Immerhin ! Pause. Kalt. Verzeihung. Pause. Lauter. Ich sagte: Verzeihung.

[...]

NELL ohne leiser zu sprechen: Nichts ist komischer als das Unglück, zugegeben. Aber . . .

NAGG entrüstet: Oh!!

NELL: Doch, doch, es gibt nichts Komischeres auf der Welt. Und wir lachen darüber, wir lachen darüber, aus vollem Herzen, am Anfang. Aber es ist immer dasselbe. Ja, es ist wie der gute Witz, der einem zu oft erzählt wird, wir finden ihn immer gut, aber wir lachen nicht mehr darüber. Pause. Hast du mir sonst noch was zu sagen?

[...]

HAMM: Clov!

CLOV gereizt: Was ist denn?

HAMM: Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu . . . zu . . . bedeuten?

CLOV: Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? Kurzes Lachen. Das ist aber gut!

HAMM: Ich frage es mich. Pause. Wenn ein vernunfbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es; sich dann nicht Gedanken über uns machen? Mit der Stimme des vernunftbegabten Wesens. Ah, ja, jetzt versteht ich, was es ist, ja, jetzt begreife ich, was sie machen! Clov zuckt zusammen, läßt das Fernglas fallen und beginnt, sich mit beiden Händen den Unterleib zu kratzen. Normale Stimme Und ohne überhaupt so weit zu gehen, machen wir selbst... gerührt wir selbst... uns nicht manchmal... Ungestüm. Wenn man bedenkt, daß alles vielleicht nicht umsonst gewesen sein wird !

(Quellen:http://de.wikipedia.org/wiki/Endspiel_%28Drama%29;
http://www.samuel-beckett.net/endspiel.htm)

Montag, 26. September 2011

Das meist besungene Thema ist fraglos die Liebe

Das meist besungene Thema ist fraglos die Liebe.
Denn die Liebe, Gefühl oder hormonelle Reaktion, verbindet.
Vor der Liebe (nicht etwa dem Gesetz) sind wir alle gleich.
Gleich hilflos. Gleich ausgeliefert. Gleich verloren.
Und im Idealfall gleich glücklich.
Glücklich mit jeder Faser unseres Körpers.
Eins in der Liebe. Vollständig.
Erfüllt von dem einen idealen Augenblick.
Besungen werden meist die Anfänge.
Erste Blicke. Erste Worte. Erste Nächte.
Das Gegenüber auf seine ansehnlichsten Körperteile reduziert.
Ganz Auge, Mund und Flammenhaar.
Teilweise ergänzt durch Stimme, die rauchig süße.
Sehnsucht, auch ein großes Thema.
Das absente Wesen, das vergangene
oder sogar nie da gewesene Glück wird beschworen.
Doch das auch ein gemeinsamer Weg
ein Ende hat bleibt gerne unerwähnt.
Wohl weil es sich dazu so schlecht schunkeln lässt.

Aufgrund ihres Seltenheitswertes verdienen es somit berührend-geistreiche Lieder über das Ende der Liebe verbreitet zu werden.



Frau von Ungefähr
Ungefähr, um fünf vor sechs,
verließ die Frau von nebenan den Mann,
der neben ihr noch schlief.
Sie nahm die Schlüssel von der Wand,
rang kurz nach Luft und verschwand dann.
Auf Nimmerwiedersehen wollte sie geh’n.

Die Tür schlug zu als sie erschrak
und an den Brief in ihrer Tasche dachte,
der den Mann betraf.
Den sie vor langer Zeit geschrieben hatte,
Wort für Wort verziert.
Von Nimmerwiedersehen stand da nichts drin.

Sie sprach von tosendem Meer,
das den Himmel verglüht,
von dem Tag, den die Nacht nicht zerbricht,
von verzehrenden Blicken, die keiner vergisst.
Good bye my love. Bis bald. Auf Wiedersehen!

Jetzt steht sie hier – im Hier und Jetzt.
Sie glaubt, es liegt was in der Luft,
doch nur die Zeit hat sie versetzt.
Die Tage kriechen vor ihr her.
Das Bett ist ohne sie zu leer.
Auf Nimmerwiedersehen kann sie nicht gehen.

Ungefähr, um fünf nach sechs,
legt sich die Frau von nebenan zum Mann,
der neben ihr noch schläft.
Sie zieht ihr Kleid ganz langsam aus und deckt sich zu.
Ein Wiedersehen, wie soll das geh’n?


(Quelle: http://17hippies.de/de/text/frau-von-ungefaehr)

Sonntag, 25. September 2011

Zwei Hörbeiträge zur Briefkultur

Das Problem:
"Die Blütezeit des Briefschreibens, als Kunst angesehen, ist heutzutage, wenigstens in der ganzen abendländischen Kulturwelt, wohl vorüber. Durch die enormen Erleichterungen des schriftlichen und mündlichen Verkehrs, welche die Eisenbahnen, Telegraphen und Dampfschiffe und die Entwickelung des Postwesens herbeigeführt haben, hat sich die Anzahl der Briefe in riesigem Maßstab vermehrt, aber sowohl der Umfang als die künstlerische Form der Briefe einen auffallenden Rückgang erfahren. Während man früher, um an Porto zu sparen, selten, aber dafür desto ausführlicher schrieb, ist bei einem Telegramm oder in einer Postkarte das Hauptstreben auf Kürze gerichtet." (Meyers Konversationslexikon 1885-1892; Quelle: http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=102729)

Nun die versprochenen Hörbeiträge:
1.)Musikalisch: Simon and Garfunkel — Why Don't You Write Me


2.)Humoristisch: Karl Valentin und Liesl Karlstadt - Des Freundes Brief


Die Lösung:
Empfänger wählen. Brief schreiben und frankieren. Brief versenden.
Antwortbrief erhalten.Sterbende Kulturtechnik retten.

Um es in den Worten der Deutschen Post zu formulieren:"Mit dem Standard-, Kompakt-, Groß- und Maxibrief sowie der Postkarte erreichen Sie jeden Empfänger."

Samstag, 24. September 2011

Lesen ist ebenso nützlich wie reizend

(Winslow Homer, The New Novel (1877))

Lesen ist ebenso nützlich wie reizend. Wenn ich lese, bin ich ein harmloser, stiller netter Mensch und begehe keine Torheiten. Eifrige Leser sind sozusagen ein stillvergnügtes Völkchen. Der Leser hat seinen hohen, tiefen, langanhaltenden Genuß, ohne daß er jemandem im Weg ist oder jemandem etwas zu leid tut. Ist das nicht vortrefflich? Das will ich meinen! Wer liest, ist weit davon entfernt, böse Pläne zu schmieden. Eine anziehende und unterhaltende Lektüre hat das Gute, daß sie uns zeitweise vergessen macht, daß wir böse, streitsüchtige Menschen sind, die einander nicht in Ruhe lassen können. Wer vermöchte diesem freilich ziemlich traurigen, wehmutseinflößenden Satz zu widersprechen? Gewiß lenken uns Bücher oft auch von nützlichen und dienlichen Handlungen ab; im großen und ganzen muß aber dennoch das Lesen als segensreich gepriesen werden, wenn es erscheint durchaus nötig, daß sich unserem ungestümen Erwerbstrieb eine Bändigung und unserem oft rücksichtslosen Tatendrang eine Betäubung sanft entgegenstellt. Ein Buch ist gewissermaßen eine Fessel; man spricht nicht umsonst von fesselnder Lektüre. Ein Buch bezaubert, beherrscht uns, hält uns in seinem Bann, übt also Macht auf uns aus, und wir lassen uns eine derartige Gewaltherrschaft gern gefallen, denn sie ist eine Wohltat.
(Walser, Robert: Ein Buch bezaubert, beherrscht uns)

Donnerstag, 22. September 2011

"...Grausamkeiten, die ins Phantastische spielten"

(The Bloody Countess by S. Caruso)

"Er war der Sohn eines Professors, Enkel eines Thronanwärters in einem Balkanland, war albern, liebte Kostümierungen, liebte Grausamkeiten, die ins Phantastische spielten. Mit reger Anteilnahme las er von Rittern, die ihre Frauen zwangen, das vorzüglich zubereitete Herz ihrer Geliebten zu verspeisen; von einem gewissen jungen Adligen, welcher seine Tante aus Rache in aller Öffentlichkeit und vor versammeltem Gefolge zu demütigen pflegte; von Vorfällen im elften Jahrhundert ähnlich denen in der Tschubarowka, reifen Töchtern, die in Fässern ins Meer geworfen wurden, um sich von ihrer Schande reinzuwaschen; ihn interssierten Königsgeschlechter in erster Generation, die sich von Inkuben herleiten, und das Geschlecht der Lusignaner reizte seine Einbildung, da es von Melusine abzustammen vorgab, welche halb Frau, halb Schlange war." (Konstantin Waginow - Bambocchiade)

Dienstag, 20. September 2011

Sport und geistiges Schaffen

(Illustration v. Edmund Dulac)

BRECHT: SPORT UND GEISTIGES SCHAFFEN
Ich muß zugeben, daß ich die These, Körperkultur sei die Voraussetzung geistigen Schaffens, nicht für sehr glücklich halte. Es gibt wirklich, allen Turnlehrern zum Trotz, eine beachtliche Anzahl von Geistesprodukten, die von kränklichen oder zumindest körperlich stark verwahrlosten Leuten hervorgebracht wurden, von betrüblich anzusehenden menschlichen Wracks, die gerade aus dem Kampf mit einem widerstrebenden Körper einen ganzen Haufen Gesundheit in Form von Musik, Philosophie oder Literatur gewonnen haben. Freilich wäre der größte Teil der kulturellen Produktion der letzten Jahrzehnte durch einfaches Turnen und zweckmäßige Bewegung im Freien mit großer Leichtigkeit zu verhindern gewesen, zugegeben. Ich halte sehr viel von Sport, aber wenn ein Mann, lediglich um seiner zumeist durch geistige Faulheit untergrabenen Gesundheit auf die Beine zu helfen, »Sport« treibt, so hat dies ebensowenig mit eigentlichem Sport zu tun, als es mit Kunst zu tun hat, wenn ein junger Mensch, um mit einem Privatschmerz fertig zu werden, ein Gedicht über treulose Mädchen verfaßt. Einige Leute, die vermutlich der Seifenindustrie nicht ganz fernstehen, haben versichert, daß der Zivilisationsstand eines Volkes an seinem Seifenverbrauch kontrolliert werden könnte. Demgegenüber setze ich vollstes Vertrauen in Männer wie Michelangelo, daß sie auch durch einen völlig unmäßigen Gebrauch von Seife nicht hätten gehindert werden können, die Zivilisation zu bedrohen.

Sonntag, 18. September 2011

Die letzte Nacht...


"»Was würdest du tun, wenn du wüßtest, daß heute die letzte Nacht der Welt anbricht?«
»Was ich tun würde? Meinst du das im Ernst?«
»Ja, absolut.«
»Ich weiß nicht. Ich habe nie darüber nachgedacht.«
Er goß Kaffee ein.[...]Der angenehme, reine Duft des frisch aufgebrühten Kaffees lag in der Abendluft.
»Es wäre gut, wenn du dir jetzt einmal darüber Gedanken machtest«, sagte er.
»Das kannst du nicht ernst meinen!«
Er nickte.
»Ein Krieg?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nicht die Wasserstoff- oder die Atombombe?«
»Nein.«
»Oder ein Krieg mit biologischen Waffen?«
»Nichts dergleichen«, antwortete er, während er langsam seinen Kaffee umrührte. »Ich möchte es ganz einfach so formulieren: ein Buch wird geschlossen.«
»Ich glaube, das verstehe ich nicht.«"

(Ray Bradbury - Der illustrierte Mann; Die letzte Nacht der Welt)

Freitag, 16. September 2011


(Calvin and Hobbes - Bill Watterson)

Donnerstag, 15. September 2011

Gedichts-verhandlung V - Ursula Krechel: Nachtrag

(Künstler: Luigi Conconi)

Nachtrag

In den alten Büchern
sind die Liebenden vor Liebe
oft wahnsinnig geworden.
Ihr Haar wurde grau
ihr Kopf leer
ihre Haut fahl
vor Liebe, lese ich.

Aber nie ist jemand
wahnsinnig geworden
aus Mangel an Liebe
die er nicht empfand.
Auch das steht
in den alten Büchern.

So hätte denn der Mangel
einmal sein Gutes.