Montag, 3. Oktober 2011

John Hulmes - De Translatione Nursery Rhymes. Von den schwindelerregenden Möglichkeiten referentieller Verirrung im älteren angelsächsischen Liedgut

In einem der vielen Häuser in dieser wundervollen Stadt, in dem ich einmal lebte, hatte sich eine schöne Tradition eingeschlichen. Wer ein Buch besaß, an dessen Besitz er kein Interesse mehr hatte, der bereicherte sich nicht etwa mit dem Verkauf des betreffenden Werkes oder übereignete es sogar einem der Abfall-Sammelbehälter der städtischen Müllentsorgung. Nein, er platzierte es gut sichtbar an einer bestimmten Stelle in der Einfahrt, damit es einen neuen Besitzer finden konnte. Das ganze hatte etwas Magisches. Man legte ein Buch hinaus und schaute dann wie lange es wohl liegen bleiben würde. War es dann plötzlich verschwunden stellte man sich unweigerlich die Frage, wo das Werk denn nun ein neues Heim gefunden haben mochte, denn das Mietshaus war nicht klein zu nennen. Fand man selbst ein Buch, das einem gefiel und nahm es mit sich, so war dies ein Gefühl als wäre Nikolaus vorverlegt worden. Auf diesem Wege haben einige Bücher, die ich unter normalen Umständen wohl nie besessen hätte, ihren Platz in meinem Regal gefunden. Eines möchte ich meiner werten Leserschaft heute vorstellen:
Ein Blick ins Vorwort verrät, dass „die Gedichte in diesem tiefsinnigen Bändchen aus dem Nachlaß eines exzentrischen englischen Lords stammen, bei dem ich [der ursprüngliche Herausgeber] 57Jahre lang als Butler gedient habe. Dieser bemerkenswerte Mensch lebte ganz alleine […] in einem verfallenen Schloß nicht weit von Windsor, wo seine Urahnen schon seit 1291 ohne fließendes Wasser existiert haben.“ Das Nachwort der wissenschaftlichen Herausgeber erläutert darüber hinaus, dass „für die Neuausgabe […] die erklärenden Beigaben des Herausgebers unverändert übernommen wurden, jedoch ein Titel gewählt wurde, den die Ergebnisse der inzwischen profilierten textkritischen Forschungen nahe legen. […] In dem Schlüsselbegriff translatio ist […] der Aspekt der Über-Setzung als ein komplexes syntakto-semantisches transnationales Aneignungsverfahren in einem mehrfachen Sinne „aufgehoben“.“

Und nun einige aussagekräftige Auszüge:

Allah fur girl sinned shown tar
Allah fur girl, Allah (1).
Am cell dross elf ink hunt star
Undie (2) can Sir foe girl Shah
Finch hen dear iron coo (3)tis yah!
Lout (4) air high land say gun.

Anmerkungen:
(1)Wegen ihrer Sünden sitzt sie in einem Pelzmantel in ihrer Zelle und ruft Allah an.
(2)Ein Zwerg mit Schlacke jagt nach der Unterwäscheeiner Filmgröße
(3)Tauben gurren, Finken und Hühner aber selten. Viellecht sind persische anders.
(4)Dieser Lümmel schießt sie trotzdem.



Dee bloomer line sees laugh hen (1)
Shown length Tim (2) moan den shine
See Nick (3) hen mid den curb (4) shun
How fear hens Tengah (5) line


Anmerkungen:
(1) Die Schlupfhosen an der Leine bringen das Huhn zum Lachen.
(2) Timotheus: Märtyrer und katholischer Heiliger (Feiertag am 24. Januar)
(3) Nikolaus von der Flüe („Bruder Klaus“), hoch verehrter Volksheiliger (1417-1487) in der Schweiz)

(4) Hasenfuß kommt bei Hühnern verhältnismäßig selten vor
(5) Stadt in Singapur


Die Auflösung:
Wer bisher nicht entnervt die Lektüre beendet hat, wird wohl bereits ahnen, dass wir es hier mit einer Wissenschafts-Satire zu tun haben. Bei den Gedichten handelt es sich um bekannte deutsche Kinderlieder, die in einer Art englischen Lautschrift wiedergegeben sind. Das ganze Buch gleicht dabei in Form, Aufbau und Gestaltung einer textkritischen Ausgabe. Man könnte sagen, dass das ein Literaturwissenschaftlerwitzbuch ist, weshalb es wohl auch nur die Mitglieder dieser Spezies rückhaltlos komisch finden werden. Da kommt es gar nicht so unerwartet, dass ich es großartig finde.

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