Samstag, 24. September 2011

Lesen ist ebenso nützlich wie reizend

(Winslow Homer, The New Novel (1877))

Lesen ist ebenso nützlich wie reizend. Wenn ich lese, bin ich ein harmloser, stiller netter Mensch und begehe keine Torheiten. Eifrige Leser sind sozusagen ein stillvergnügtes Völkchen. Der Leser hat seinen hohen, tiefen, langanhaltenden Genuß, ohne daß er jemandem im Weg ist oder jemandem etwas zu leid tut. Ist das nicht vortrefflich? Das will ich meinen! Wer liest, ist weit davon entfernt, böse Pläne zu schmieden. Eine anziehende und unterhaltende Lektüre hat das Gute, daß sie uns zeitweise vergessen macht, daß wir böse, streitsüchtige Menschen sind, die einander nicht in Ruhe lassen können. Wer vermöchte diesem freilich ziemlich traurigen, wehmutseinflößenden Satz zu widersprechen? Gewiß lenken uns Bücher oft auch von nützlichen und dienlichen Handlungen ab; im großen und ganzen muß aber dennoch das Lesen als segensreich gepriesen werden, wenn es erscheint durchaus nötig, daß sich unserem ungestümen Erwerbstrieb eine Bändigung und unserem oft rücksichtslosen Tatendrang eine Betäubung sanft entgegenstellt. Ein Buch ist gewissermaßen eine Fessel; man spricht nicht umsonst von fesselnder Lektüre. Ein Buch bezaubert, beherrscht uns, hält uns in seinem Bann, übt also Macht auf uns aus, und wir lassen uns eine derartige Gewaltherrschaft gern gefallen, denn sie ist eine Wohltat.
(Walser, Robert: Ein Buch bezaubert, beherrscht uns)

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